1.2.73 Zerissenheit

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JasminRheinhessen
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1.2.73 Zerissenheit

Beitrag von JasminRheinhessen » 17 Jul 2017, 12:19

(keine Formatierung für FYG)

„Für mich bist Du vom Gehirn her eine Frau. Mehr Frau geht gar nicht. Und ich bin sicher, dass Du das noch nicht einmal selbst für Dich realisiert hast."
Marleen hörte diesen Satz von Mirabell ständig in ihren Gedanken, während sie alleine in ihrem Zimmer, einen für sie wichtigen Brief schreibt, der sich für sie in diesem Moment einschläfernd, steif und sehr unfeierlich liest, welch' unerotische Zeremonie:
Liebe Unbekannte, Muse, Zauberfee und Nymphe, Priesterin meiner
Gedanken, liebste und göttliche Yonibesitzern, Machthaberin aller Weiblichkeit und sexuellen Ekstase.
Wie schwer fällt es mir doch, Dir diese Zeilen zu schreiben, wo Du doch meine allerliebste Sehnsucht bist, ich am liebsten Dauergast in Deinen Gemächern sein wollte, Dich berühren und verzauben möchte, mit meinen Händen, meinem Körper meiner Zunge und meinen Worten. Sehen wie Du eigentümlich immer mehr von mir brauchst, sehnsüchtig nach mir wirst. Im Salon Deiner Erotik mich immer freudig begrüßen mögest. Und jetzt, wird dieses Ziel vielleicht mit diesem Wortaustausch, der sich in Gegenstand meines Briefes an Dich zeigt, abgewürgt. Ich fühle mich, als säße ich an einer langen Tafel, am Ende des Tisches, und kann Dich nicht in eine Unterhaltung ziehen, da Du einfach zu weit weg bist, und mit anderen redest. Die anderen, dass sind Deine eigenen Sorgen und Nöte, Deine Dinge, die Dich beschäftigen, die Du vielleicht sogar als primär wichtiger erachtest, als ein kleines Tête-à-Tête mit mir. So wie ich mich eigentlich auf Dich freuen müsste, so gleichen meine Gedanken einem Schlachtfeld, auf dem Berge von Leibern in Schützengräben liegen, umsäumt von Pferden, die ihre Reiter verloren haben, und die jetzt genauso leblos in den Himmel blicken, der voller Rauch, Dreck und Gestank ist, geschwängert vom Hass derer, die diese armen Menschen und Tiere ins Verderben gehetzt haben.
Warum ist mir das nicht früher so gegangen, ach nein, ich hatte ja keine Frauen getroffen, nur Männer, Marleen gab es nur für Männer, und ich nahm es hin, dass diese mich als Tr☹nse gelesen haben, ja ich ertrug es, weil es gerade am Anfang für mich garantierte, dass sie mich nicht ablehnten, zumindest nicht die Tr☹nsenfans, welch opportuner Tauschhandel, den ich damals bereit war zu tun, nein, das kann ich schon lange nicht mehr. Für mich ist es so wichtig geworden, dass mich meine Partner_innen als Marleen lesen, sehen und fühlen.
Wie soll ich Dir mit diesen Gedanken entgegentreten, und Dich gleich­zeitig mit positiver Energie und Lebenslust verzaubern können?
Seit Stunden, nein Tagen, denke ich über uns nach, über unsere Briefe, die wir uns bisher in den letzten Jahren geschrieben haben, soviel Verständnis und Verstehen ist darin zu finden, doch jetzt halte ich die Unsicherheit in meiner Hand, dass Du mich jemals verstehen könntest. Dieses Gefühl ist unbarmherzig und ausnahmslos zerstörend für jegliches meiner Gefühle. Ja, ich hatte Dich gefragt, wie ich bei unserem ersten Treffen erscheinen solle, verkleidet in meiner männlichen Rolle, oder in der Kleidung, die mich eindeutig im Patriarchat als Frau ausweist. Wie konnte ich Dir nur diese Frage stellen, und so tun, als ob es mir gleich wäre. Warum hab ich das getan? Wollte ich Dich testen? Versuchen Deine Gedanken auszuforschen? Oh ich sehne mich danach, als ich das erste mal als Marleen unterwegs war, und tatsächlich glaubte, die Betrachter würden denken, ich wäre eine Frau. War es einfach meine Dummheit, oder weil sich keine andere Gelegenheit bot, mich gut fühlen zu können? Hatte ich nun bei Dir gehofft, Du würdest mir Gnade schenken, indem Du sagst: Ja Marleen, natürlich möchte ich Marleen kennenlernen, nicht das fremdbestimmte männliche Etwas, was das Patriarchat aus Marleen all die Jahre ihres Lebens gemacht hat!
Warum blieb ich nicht meiner Linie treu und versuchte stattdessen vorzugeben, ich wäre so stark, dass ich Marleen einfach in männliche Kleidung stecken könnte? Als ich diesen Fehler machte, nahm der Teufel an meiner Seite Platz. Wie konnte ich es zu einer allgemeinen Frage machen, wie ich denn bei Dir erscheinen sollte, wenn es doch eine elementare, existentielle ist? Und dann schriebst Du mir, ich solle doch einfach so kommen, wie immer, in männlicher Verkleidung, da es mir ja weniger Mühe machen würde. Wie nett von Dir, und doch so grausam. Ist das die Dokumentation einer sterblichen Verliebtheit, wo wir doch die letzten Jahre fast ausschließlich über das Frauenthema in Bezug auf mir diskutiert und geschrieben hatten, und Du mich doch so gut verstehst, zumindest glaubte ich das? Oder hätte ich vehementer sein, gar nicht diese Frage zulassen sollen, wie ich denn bei unserem ersten Treffen erscheine?
Ich befinde mich in tiefer Depression, während ich darüber nachdenke, Du könntest mich gar nicht als Frau wahrnehmen, wenn Du es denn ertragen kannst, mich in männlicher Verkleidung sehen zu können, und auch noch bei unserem allerersten Treffen, nach all den Jahren?
Muss ich denn hier nicht zwingend annehmen, dass es Dir egal ist, wie ich aussehe? Oder soll ich annehmen, dass Du schon so weit bist, in Gedanken und Fähigkeiten, dass es Dir nichts mehr ausmachen könnte, dass Du mich immer als Marleen wahrnimmst, egal wie ich aussehe?
Ja, ich habe einen großen Kitzler, wie ich ihn nenne, habe keine Operation, aber gerade desshalb ist es für mich wichtig, dass ich dann, wenn ich mit Dir ein erotisches Treffen hab, durch meine Kleidung und Aussehen, Nylons, Schminke, Rock, so kurz wie möglich, zum Ausdruck geben kann, dass ich eben kein Mann bin? Gerade weil ich keine Operation habe, brauche ich diese Zeichen doch noch viel mehr, sind sie viel wichtiger, um Dir zu zeigen, wer ich wirklich bin? Hätte ich eine genitalangleichende Operation, könnte ich mich eher entspannen, auch wenn ich halbnackt bin. Ohne Operation ist für mich eine Strumpfhose ein rettender Anker, der Dir sagen soll, ich bin eine Frau. Meine Kleidung ist für mich, was Fremdwahrnehmung angeht, eine Art gaOp-Ersatz, und die Tatsache, dass das Patriarchat zwar den Frauen nun Hosen, aber Männern keinen Rock zugestanden hat, gereicht für mich zum Vorteil, mich besser abgrenzen zu können.
Ja - ich muss das Treffen absagen, nicht in dieser Form kann es für mich ein schönes sein, mich kann es für Dich nur als Marleen geben, während ich darüber nachdenke, diesen Entschluss nun gefasst zu haben, und auch in die Tat umzusetzen, geht es mir schon besser, fühle mich entspannt, das Leben sagt wieder ja zu mir.
Welchen Seufzer wirst Du machen, während Du diese Zeilen liest? Wirst Du denken, mein Gott, was ist dieser Mensch kompliziert, wie kann ich mit ihm Freude haben, schöne Stunden verbringen? Alles nur Probleme?
Nein, ich möchte keine Ehefrau, keine Beziehung, nur gut, dass das so ist, denn dann würde ich vielleicht doch in die Versuchung geraten, mich selbst zu verraten, und diesen Brief nicht zu schreiben. Ja, die Erotik fehlt mir, es ist ein Leben zwischen der Wahl, zwischen Erotik die tot ist, weil sie nicht meine Identität meint, und keiner Erotik. Das Letztere scheint mir seit langem das kleinere Übel zu sein.
Dieses Patriarchat, ich mag es gar nicht mehr spüren, erleben, sehen und davon gedemütigt werden. Am liebsten würde ich mich in einem Schlösschen verkriechen und nur noch Menschen an mich heranlassen, die mich verstehen, bei denen ich sicher bin, dass sie keine Heuchelei betreiben, aber wie oft wurden Menschen vor diesen Rückzügen gewarnt? Sind es nicht immer die Figuren in den Märchen, die als Verlierer dargestellt werden, wenn sie in ihrer selbst gewählten Einsamkeit verbittern? Aber was ist der bessere Tod? Der in einsamer Verbittertheit, oder der, zu spüren, das mit Dir jemand spricht, der Dich gar nicht sieht und meint?
Liebste Unbekannte, Muse, Zauberfee und Nymphe, Priesterin meiner
Gedanken, liebste und göttliche Yonibesitzern, Machthaberin aller Weiblichkeit und sexuellen Ekstase, ich kann nicht zu Dir kommen diese Woche, ich möchte auch nicht „als Marleen“ zu Dir kommen, da ich dann in dieses gruselige Patriarchat eintauchen muss. Mich gibt es nur in meinem Traumschlösschen, komme zu mir, rette mich.



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