CLIII - Zu Besuch auf einem fremden Planet

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JasminRheinhessen
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CLIII - Zu Besuch auf einem fremden Planet

Beitrag von JasminRheinhessen » 21 Nov 2016, 23:02

Du bist hetero, liebst Deine Freundin.
Ein Mann, stark, kräftig, und Deine Freunde finden Dich toll.
Alles passt.

Du kannst nicht verstehen, wie die Welt aussieht,
für einen Menschen, der für männlich gehalten wird, so wie Du,
aber wenn Du ihn fragst, was er für ein Geschlecht hat,
sagt er Dir: Ich bin eine Frau.

In dieser Geschichte geht es nicht darum,
zu erklären, warum dieser Mensch sagt, warum er eine Frau ist.

Es geht darum zu versuchen, Dir verstehen zu machen,
wie dieser Mensch fühlt.

Dazu tauschen wir die Rollen.

Die Welt, die dieser Mensch jeden Tag um sich erlebt,
ist nur nachzuvollziehen, wenn wir alles umdrehen.

Stell Dir vor, Du gehst mit Deiner Freundin in eine Kneipe,
Du hälst sie im Arm,
um Dich herum überall Pärchen, Männerpärchen, Frauenpärchen,
sie grinsen Dich an, nicht alle, aber viele.
Einige rufen Euch zu, obwohl sie euch gar nicht kennen:
"Hey - ihr Heten, verpisst euch hier !"
Eine Frau kommt zu euch an den Tisch und meint es gut,
sie fragt:
"Warum seid ihr hetero ?"

Im übrigen findest Du gar nicht, dass Du hetero bist,
Du empfindest DIch als Frau.
Nur weil Du männlich aussiehst, und mit einer Frau zusammen bist,
wirst Du als hetero gelesen, jeder sagt, dass Du hetero seist,
obwohl Du lesbisch bist. Schwul und lesbisch ist normal.

Du stehst auf und gehst auf die Damentoilette,
als Du rauskommst wirst Du angepöbelt:
"Hey - Du hast Dich in der Tür geirrt - Deine ist hier!"
Du schaust in die Richtung seiner Hand und siehst die Männertoilette.
Du fühlst Dich mies, schade, dass Dich niemand vor dieser Kneipe gewarnt hat,
wenn Du gewusst hättest, dass sie transphob und heterophob ist,
wärst Du nicht hierhergekommen.
Es ist besser vorher zu recherchieren wo man hingehen kann,
vor allem in einer fremden Stadt.

Du zahlst und gehst mit Deiner Freundin, der Weg bis zur Tür wird
noch einmal zur Mutprobe, die Männer stehen Spalier.
Du nimmst Deine Freundin nicht in den Arm - nur nicht noch die Stimmung
eskalieren lassen.
Endlich draussen winkst Du ein Taxi herbei, es hält aber nicht an.
Auch das nächste lässt euch stehen.

Nachdem Du Dich ein paar Meter entfernt von Deiner Freundin hinstellst,
gelingt es ihr, ein Taxi anzuhalten.
Du tust so, als ob Du nicht dazugehörst,
steigst ein paar Sekunden später mit dazu ein.
Zufälligerweise ist aber der Taxifahrer nicht heterophob.
"Hey - ich weiß dass ihr zusammengehört, lasst euch ruhig gehen", sagt er.
Er gehört zur Hetero-Community, ein buntes Fähnchen hängt an seinem Innenspiegel.
Ihr redet, er erzählt, dass schon wieder eine Heterokneipe zugemacht hat,
es gab eine Schlägerei, ein Pärchen wurde zusammengeschlagen.
Dann erzählt er, während er den Wagen gekonnt durch die engen Gassen kurvt,
dass er seinen Job verloren hat, als sein schwuler Chef erfuhr,
dass er hetero ist. Ein Freund, der ihm eins auswischen wollte, hat ihn verraten.
Seitdem fährt er Taxi, das ist jetzt 3 Jahre her.
Seine Freundin verlor ihren Job auch gleich mit, sie arbeitete in einem Krankenhaus,
in dem die Kirche der entscheidende Geldgeber ist.
"Wenn Du hetero bist, kannst Du verschiedene Berufe nicht mehr ausüben,
das geht einfach nicht, besonders im öffentlichen Dienst ist es schwierig,
wie in meinem Fall, sagt er."

Er erzählt verträumt von einer Welt, in der er seine Freundin heiraten könnte,
so wie alle anderen Schwulen und Lesben das auch können,
einfach ihren Partner heiraten, den sie lieben.

In der Stadt gibt es wenig einschlägige Heterokneipen,
meist in Vierteln, die etwas ausserhalb liegen, in eher schmuddeligen Straßenzügen.
Es hat den Anschein, als würde man einer Subkultur angehören,
nur weil man einen Menschen liebt, der das andere Geschlecht hat.
Warum wird Liebe zu einem Menschen sanktioniert ?
Er wird es nie verstehen, sagt er, als er verträumt an seiner Zigarette zieht.

"Ihr könnte euch ruhig anfassen, euch küssen, hier seid ihr sicher,
nachher wenn ihr aussteigt, ist das nicht mehr so sicher, also nutzt die Gelegenheit."
Er rang sich ein Lächeln ab, aber Sarkasmus wirkt im Real-Life selten humorvoll,
wenn der Körper noch voll mit negativem Gefühslemotionen aufgeladen ist.

"Manchmal denke ich, ich wandere aus, ich halte es hier nicht mehr lange aus",
aber dann fügt er an: "Aber es ist sinnlos, auch in Ländern, in denen
es liberaler zugeht, Du kannst immer auf einen heterophoben Irren treffen,
vor denen bist Du nirgends sicher. Die Pärchen halten kein Händchen in der Öffentlichkeit,
geben sich unauffällig, als ob sie ein Verbrechen vertuschen müssten."

"Es ist völlig egal, Du kannst nirgendwo so sein wie Du bist:
Ob in Kneipen, im Schwimmbad, im Urlaub oder in deiner Stadt oder in deinem Dorf,
musst Angst haben, dass dein Arbeitgeber, dein Nachbar, oder deine Verwandtschaft
etwas erfährt, ich hab mich seit Jahren zurückgezogen, im Taxi ist meine kleine
Welt in Ordnung, hier dreh ich das Radio auf, und bin frei, die anderen,
sind die da draussen, versteht ihr ?
Manchmal hab ich Gäste wie euch, dann ist alles wie in einem Sonneblumenfeld,
alles ist in Harmonie, dann steigen diese Gäste aus, und Schwule oder Lesben ein,
dann ist wieder dicke Luft im Wagen. Sie sehen mein Fähnchen am Innenspiegel hängen
und sind dann froh wenn sie wieder aussteigen können, Trinkgeld bekomme ich
von diesen Gästen dann auch nicht mehr, aber das Fähnchen bleibt, ich zahle sozusagen
für dieses politische Statement jeden Tag. Es ist nicht viel,
aber es ist mein kleiner Anteil am Kampf für eine freiere Gesellschaft."

Wir kommen an, es ist eine kleine Strasse, buntes Licht vor dem Eingang.
"Also ihr beiden, ruft mich an, wenn ich euch heimbringen soll,
ich brauch ca. 20 Min vom Bahnhof hierher, hier ist meine Nummer."

Wir bedanken uns und drücken uns gegenseitig, umarmen uns fast,
als ob wir uns schon ewig kennen, es ist mehr sich trösten als Zuneigung.
Verbündete im Schmerz. Dann winken wir noch, während unser Taxifahrer im Dunklen
verschwindet.
Wir gehen getrennt zum Eingang, erst als wir die Kneipentür hinter uns
schliessen, berühren sich unsere Hände wieder. Eine Heterokneipe.



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