ganz egal – Udo Lindenberg 1973

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JasminRheinhessen
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ganz egal – Udo Lindenberg 1973

Beitrag von JasminRheinhessen » 13 Sep 2014, 13:51

Udo Lindenbergs Textzeile “es ist doch ganz egal, ob Du ein Junge oder Mädchen bist”, löste für mich erstmalig in meinem Leben ein Freiheitsgefühl aus, das Erziehungsnormen und Erwartungen anderer Menschen an mich, was ich nun zu sein hätte, in Frage stellten, sprengten und mich selbstbestimmend machten, lange bevor ich wusste, was das überhaupt ist.
Diese Zeile im Song “Ganz egal” – von der LP “Alles klar, auf der Andrea Doria” 1973, fiel mir sofort auf, und zwar sogar bevor mir bewusst war, das ich in mir eine weibliche Identität habe, es sagt einem ja niemand – und die Erziehung sorgt für den Rest, damit alles “normal” verläuft – denn das in Frage zu stellen, was andere “sehen” , wäre ja völlig verrückt, und ja für viele sind wir es ja auch. Der Song wurde selten gespielt, der Titelsong, dann “Cello”, und natürlich “Mädchen aus Ostberlin” wurden im Radio vorwiegend gespielt, der Song “Ganz egal” war eher unscheinbar – doch lösten nur 2 Textzeilen für mich eine Revolution aus -
ja es war “ganz egal” – plötzlich war alles möglich.

Udo Lindenberg, Ganz egal:

Neulich hab ich ‘n Film von früher gesehn
da war so ‘n Typ, den fand ich richtig gut
der hieß James Dean
die haben mir erzählt, daß er der erste war
der geweint hat auf der Leinwand
vorher gab´s nur diese knallharten Männer
mit der Knarre in der Hand

Und dann hab ich alte Platten gehört
Rock ‘n ‘Roll von Elvis Presley
der machte damals ‘ne Riesenschau
und bewegte die Hüften wie ‘ne Frau
und 63 waren die Beatles da
das war damals noch ein Skandal mit dem langen Haar
und Paul sang wie ein Mädchen, das kam unheimlich an

Dann Mick Jagger und jetzt Davie Bowie
der seinen Gitarristen auf der Bühne küßt
und wieso auch nicht
es ist doch ganz egal
ob du ein Junge oder ‘n Mädchen bist!

Gestern hab ich dich zum ersten Mal gesehen
weiße Haut, totaler Knock-out
für einen Moment blieben wir stehen…
weißt du, irgendwie fand ich dich so gut
doch dich gleich auf der Straße zu umarmen
dazu fehlte mir der Mut


Index:
Geschlechterrollenerwartung - FYG0002
Zuletzt geändert von JasminRheinhessen am 04 Okt 2014, 19:29, insgesamt 1-mal geändert.



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JasminRheinhessen
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1. Analyse - ganz egal – Udo Lindenberg 1973

Beitrag von JasminRheinhessen » 13 Sep 2014, 14:55

Wenn die Auflösung von genitalbezogenen Rollenzuweisungen als angenehm empfunden wird,
ist das ein Anzeichen für eine vom Genital abweichende Identität.

Ganz egal, ob du Junge oder Mädchen bist, diese Aussage zu hören, von einem Song,
bedeutete wenn man die Aussage pragmatisch betrachtet ja eigentlich nur,
das man keine gesellschaftlcihen Geschlechterrollen mehr erfüllen braucht.

Etwas was in den 70igern noch jenseits jeder Selbstverständlichkeit war, wie heute im Jahr 2014.

Nun, bei Geschlechtsidentitäten geht es nicht um Geschlechterrollen.

Warum ist jemand, in dem Fall ich, erleichtert, wenn er das hört ?

Warum spürt jemand, eine Art Befreiung wenn er das hört ?

Wenn ihm jemand sagt, das Geschlechterrollen im Prinzip nicht anderes als
Gesellschaftsnormen und Regelwerke sind, in die man aufgrund seines Geschlechtes,
und in der Verständniswelt der aktuellen Zeit heisst das aufgrund seine Genitales
hineingeboren wird.

Egal wie Du also fühlst, wenn du einen Penis hast, oder eine Vagina, hast Du die oder
jene Rolle zu "spielen". Denn ob Du das bist was Du "spielst", was andere von Dir erwarten,
ist eine ganz andere Frage.

Wenn Du die Rolle nicht spielst die erwartet wird, erfolgt Ausgrenzung.
Heute weniger, wie damals in den 70igern, zum Zeitpunkt des Songs "ganz egal".

Wenn Du also ohne negative Folgen so sein könntest wie Du willst,
und dafür steht ja der Song ein, ist das ein befreiendes Gefühl.
Denn vorher warst Du Gefangender der Rollenzuweisung.

Eine Frau ist so und so, ein Mann so und so.
Ich werde jetzt nicht mit Rollenbilder-Klischees langweilen,
das weisst Du genauso gut wie ich, was hier in der Gesellschaft früher
abgelaufen ist, und immer noch heute spürbar ist.

Wenn man also diese Gefangenentür aufsperrt und den Gefangenen rauslässt,
was bedeutet das für die Identität.

Ganz einfach:
Wenn Du Dich gefangen gefühlt hast, ist Deine Identität nicht die,
die der Rolle entsprcht.
Das ist schon ein Beweis für Deine falsche Zuweisung (Hebammengeschlecht)

Denn wenn Du keine Befreiung gespürt hast, und Dich nicht gefangen fühlst,
bist Du mit Deiner Rolle in Harmonie, das bedeutet wiederum,
das die Gesellschaft zwar einer Frau eine Rolle zuweist,
aber nicht das zuweisen der Rolle ist wichtig,
sondern das sie in Dir eine Frau sieht, und:
Das Du in Dir eine Frau siehst.
Wenn beides übereinstimmt, bestätigt die Gesellschaft deine Identität.

Du fühlst Dich somit als Frau anerkannt.

Genau das Gegenteil spürst du durch den Rollendruck,
wenn Deine Identität nicht mit der Rolle (Deinem Genital) übereinstimmt.

Rolle und Genital sind verquickt worden durch die Gesellschaft,
und deshalb kann man hier auch Identitäten ablesen,
und zwar an der Reaktion, wie Menschen auch ihre Rollenzuweisung reagieren.

Natürlich gibt es andere Gründe die Rolle abzulehnen:
Gleichberechtigung, Emanzipation usw.
Diese Dinge sind aber eine völlig andere Ebene und sind unabhängig
von der Identität, das Du Dich durch die Gesellschaft als Frau bestätigt fühlst.

Die übergestülpte aufoktroyierte Rollenzuweisung, wenn sie als Gefangenschaft empfunden wird,
deckt also Deine Identität auf, die nicht Deinem Genital entspricht.

Wie ich im Leitartikel schrieb, war mir selbst gar nicht bewusst, warum ich mich gut fühlte,
als ich den Song das erste mal hörte.
Ich war mir meiner Identität nicht bewusst.
Sie war verschüttet, mit meterdicken Gesteinschichten aus jahrelanger Rollenzuweisung.

AMELIE
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Re: ganz egal – Udo Lindenberg 1973

Beitrag von AMELIE » 27 Sep 2014, 18:47

Das ist ganz egal. Diese Worte habe ich viel später noch einmal wahrgenommen, von einem Musikkünstler mit Namen: Helge Schneider.
"Das ist mir aber egaaal!" Ich weiss nicht mehr wozu wo und wann. Entscheidend ist der egozentrische Tonfall bei diesem Wortspiel.

Oder ist es egal? Egal.

Mir war es nie egal. Ich war Frau ganz Frau von Anfang an. Obwohl ich Mann war. Offiziell. Damit fing das Desaster erst an. Wäre ich offiziell kein Mann gewesen wäre alles egal.
So lebte ich versteckt als Frau in einem Mann. Außer mir konnte mich niemand finden. Das war nicht egal. Da ich unaufhörlich schweigend allen mir Nahestehenden zuschrie:
Seht ihr mich nicht. ihr wollt mich nicht sehen wozu wozu eigentlich nicht. Niemand verstand mein Schweigen. Das war mir nicht egal. War mein Schweigen inoffiziell? Ungenehmigt? Allen war es sehr angenehm das sie mich verkannten. Ich schrie und schrie. Doch die Lieder versanken. Wie die der Fische im Aquarium. Sie sangen. Ich war und bin mir heute noch sicher: sie sangen und singen. Klagelieder. Niemand sah den Prinz in Ihnen. Ein offizieller Kuss hätte Klarheit gebracht. Es war den Umstehenden aber egal. Niemand kam auf den Gedanken einen Fisch zu küssen in der Hoffung er wäre ein Prinz. Wäre der Fisch ein Frosch gewesen, offiziell, hätten Anwesende andere Anwesende schon dazu bewogen, den Frosch zu küssen. Doch das ja DAS spielte keine Rolle. So singt der Fisch heute noch in seinem an moderne Konzerthallen erinnerndem Aquarium seine Klagelieder. Ich aber war in einem Mann nicht in einem Aquarium, doch das ist egal. Alle konnten mich sehen aber nicht verstehen, wenn ich schwieg während Sie mich anschrien.
Und kein Zeichen was ich gab, dass Hinweis genug hätte sein können um sie Allen zu zeigen: Die Frau, dass Mädchen..nein, nicht mehr das Kind im Manne. Das Weib. Männer weinen nicht. Männer sind und geben sich unberührbar und unansprechbar wenn sie zum Trauern verurteilt sind.

Aber all dies, so verwirrend es auch schien, war mir egal. Ich bin Frau. Werde es sein und niemals tauschen mit meinem Versteck. Niemals tauschen mit anderen Verstecken-
Selbst wenn ich offiziell Frau bin. werde ich mich niemals mehr verstecken. Alle sollen mich sehen und das ist nicht egal,hören verstehen wahrnehmen und sagen: Mann du bist eine FRAU!!! Ich sehe fühle und verstehe dich. Jetzt kann ich dich AKZEPTIEREN.

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JasminRheinhessen
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Re: ganz egal – Udo Lindenberg 1973

Beitrag von JasminRheinhessen » 27 Sep 2014, 19:46

Eine wunderschöne Reflektion auf diesen Thread den Du geschrieben hast,
er bestätigt für mich so viel
Und auch immer wieder, die Metapher,
das der Betrachter nicht das sehen kann, was man selbst fühlt,
weil man in einer Hülle steckt, die ihm das falsche suggeriert.
Und auch das wichtige Wort fehlt nicht in Deinem Post: Akzeptanz.
Unsichtbarkeit erfordert Sichtbarmachung durch Aufklärung, durch "Verstehenmachen"
Das ist wichtig, dafür muss etwas getan werden,
und vor allem Falschdarstellungen wie F64.0 müssen Platz machen
für Richtigstellungen.

Für mich war auch klar, das ich eine weibliche Seele habe,
zum Zeitpunkt als ich UDO mit diesem Song hörte,
war es mir auch nicht egal, was ich innen spürte,
für mich löste sich nur erstmals der Knoten:
Hey - es ist egal, ich MUSS die männliche Rolle ja nicht erfüllen,
es ist egal, ganz egal,
das schaffte erstmals Platz und Hoffnung, und auch die Vision,
zu sagen: Hey- warum zeig ich das nicht nach außen was ich bin.
Denn es ist ja egal, ich muss das ja nicht sein für die anderen,
nur weil sie mein Äussseres in Erwartungen übertragen.

Diese Abkoppeln, von den Erwartungen, das ist mir erstmals
durch das "ganz egal" gelungen.
Erst dann konnte ich verstehen, das ich frei von Erwartungen sein kann,
und micih darum kümmern, meine weibliche Seele nicht weiter einzusperren.


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