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Recherche für Literaturprojekt

Verfasst: 24 Jun 2015, 14:40
von oliveguete
Hallo zusammen,

ich bin die Meike (http://meike-buettner.de/), eine freie Autorin aus Berlin, und gemeinsam mit Tine Mothes (http://tinemothes.de/), ebenfalls Autorin arbeite ich gerade an einer interaktiven Erzählung im Netz, in welcher eine Transperson auftaucht. Wir haben uns schon mit ein paar Menschen zu dieser Thematik ausgetauscht, aber wir wollen mit möglichst vielen in Kontakt treten, um der Thematik gebührend Rechnung zu tragen.

Uns ist wichtig, Erscheinungsräume für Menschen zu öffnen, die üblicherweise eher nicht auftauchen in Büchern und Filmen.
Darum würde ich Euch gerne ein oaar Fragen stellen.

Unsere Protagonistin* ist im Hinblick auf die eigene "Geschlechtsidentität" verunsichert. Nach der Geburt als Junge gelesen, hat sie sich selbst in den ersten Lebensjahren als Mädchen gefühlt. Im Alter von ca. 5 Jahren wurde ihr jedoch gewaltvoll klargemacht, dass ihr mädchenhaftes Verhalten nicht erwünscht ist. Aus Schuldgefühlen und Angst (vor weiterer körperlicher und psychischer Gewalt) verdrängte sie das Gefühl, ein Mädchen zu sein. So hat sie den klaren Blick für sich selbst verloren.
Unsere Figur weiß bis heute nicht, wer sie ist: ob Mann oder Frau. Gefühl und Leben widersprechen sich, aber sie hat in ihrem Leben auch Verbindlichkeiten gerecht zu werden. Sie ist unglücklich so, aber sie ist auch voller Selbstzweifel, sie zweifelt, ob sie sich das Frausein erlauben, ob sie diesen Raum für sich überhaupt beanspruchen darf. Von Körperpolitik hat sie übrigens wenig bis keine Ahnung.

1. Wir haben von der Kritik am Begriff "Geschlechtsidentität" gelesen. Ist der Begriff in Deinem Sinne? Können wir ihn in Deinen Augen benutzen oder teilst Du die Kritik daran? Falls ja, wie sieht diese Kritik, kurz und knapp, aus?

2. Nach der Geburt als "Junge" gelesen, hat die Figur sich selbst verloren. Es folgte eine männliche Sozialisation bis hin zur Hetero-Ehe, Familiengründung mit Ernähermodell. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, sowie 2 Jahre nach Scheidung, beginnt unsere Figur im Alter von 53 Jahren, sich das innere Frausein erstmals einzugestehen. Wie würdet Ihr diese Figur definieren: Als transsexuell, transgender oder transident?

3. Was sind Deine eigenen Wünsche bezüglich Erscheinungsräume für die Thematik? Was wären Deine Wünsche und Ansprüche an ein Projekt wie das unsere?

Aus der zweiten Frage würden sich für uns noch ein paar weitere Fragen ergeben vermutlich.
Ich danke schonmal für Deine Zeit und sende freundliche Grüße,

Meike

Re: Recherche für Literaturprojekt

Verfasst: 06 Jul 2015, 22:01
von Freeyourgender
Hallo Meike und Tine,
erstmal möchte ich euch hier herzlich willkommen heißen,
schön dass wir uns hier im Wohnzimmer in der FreeyourGender-Wohngemeinschaft treffen um euer Literaturprojekt in Bezug auf
die Geschlechterproblematiken zu beleuchten.
Noch kurz zu FreeYourGender, ein etwas ungewöhnliches Projekt, aber je länger ihr hier seid, umso mehr werdet ihr verstehen,
wie das Portal in seiner Funktion gedacht ist, es könnte sein, dass ihr in einem oder anderem Male überrascht werded,
hier liegt einiges "unter der Haube" verborgen.

Kurz zu mir: Es schreibt euch Jasmin, die Gründerin von FYG, ich verwende hier mehrere Accounts,
in diesem Fall nun den FreeYourGender Account, da ich meine Antwort versuchen möchte zwar auch persönlich,
aber auch allgemeingültig zu verfassen.

Und ja - diese Antwort ist eine erste Annäherung an euer Anliegen, es bedarf eines Diskurses mit Euch,
was ihr genau für Ziele habt mit dem Buch, denn diese Ziele ergeben automatisch dann auch die Antwort.

Ein Ziel hast Du Meike ja umrissen in Deiner Frage, Du schreibst Du möchtest:
...Erscheinungsräume für Menschen zu öffnen, die üblicherweise eher nicht auftauchen in Büchern und Filmen.

Das ist einfach fantastisch !
Es ist etwas wunderbares, denn Du öffnest etwas, und ziehst keine Zäune und steckst Claime ab,
wie es so oft gemacht wird, mit Geschichten werden oft Ansichten, Ideologien und Meinungen, Paradigmen und Weltanschauungen fundamentiert.
Etwas öffnen ist genau das Gegenteil: Es bedeutet, neue, völlig andere Ansichten zuzulassen, mit Paradigmen zu brechen.
Hier fällt mir Astrid Lindgren`s Pippi Langstrumpf ein, die genau das gemacht hat: Räume geöffnet - so sein können, wie man möchte.
Keine Erwartungen erfüllen, ein Mädchen darf wie ein Junge sein, und alle finden es toll !

"Erscheinungsräume für Menschen zu öffnen"
wenn ich dies selbst als Zielvorgabe mir vorstelle, mit meinem Wissen was ich über das Thema habe,
würde dies für mich bedeuten, dass ich keine Begriffe verwende, die Menschen mit jeweils verschiedenen Inhalten füllen,
wie es bei Begriffen wie Transsexualität, Transgender, Geschlechtsidentität und weitere Begriffe in diesem Spektrum der Fall ist.

Du schreibst ja schon in Deiner Frage, dass Du auf kontroverse Aussagen bezüglich von Begriffen gestossen bist,
genau das ist das Problem:
Es gibt zwar Wikipedia und es gibt offizielle Meinungen, welche Inhalte hinter bestimmten Begriffen stehen sollen,
das Problem ist aber, dass der Trans-Diskurs seit Jahrzehnten Begriffe ständig von allen Beteiligten (Meinungs-Gegner) kapert, umdeutet,
und neutralisiert. Z.B. sehen wir in der Phase, in der wir uns im Moment befinden, den Begriff Transsexualität in der Auflösung,
er wird dekonstruiert und gegendered. der Begriff Transgender, im Prinzip eine Worthülse,hinter der alles mögliche stecken kann,
absorbiert jegliche Differenzierung.

FreeYourGender bricht mit Paradigmen, daher verwende ich hier ebenfalls Begriffe, die Weltbilder beschreiben,
die ich nicht vertrete nur als Zitat, bzw. mit (SIC!)-Kennzeichnung, um ein Paradigma zu brechen, brauche ich auch eine andere Sprache,
um Altes von Außen betrachtbar zu machen, objektiv sein zu können.
Dieses Sprachproblem habe ich hier beschrieben (mehrere Artikel)
http://www.freeyourgender.de/forum/viewforum.php?f=34
das Kernproblem ist hier beschrieben:
http://www.freeyourgender.de/forum/view ... 4&t=18#p25

Hier gehe ich auf "Schubladenbegriffe" ein, die ich teilweise ablehne, bzw. führe neue Begriffe ein und erkläre sie:
http://www.freeyourgender.de/forum/viewforum.php?f=147

hier weise ich auf das Problem des Begriffs "Transsexualität" hin:
http://www.freeyourgender.de/forum/view ... t=210#p356

Hier die Kritik des Begriffes "Transsexualität" als Kapitel XVI des 1. Bandes aus "Das unsichtbare Geschlecht", das Buch entsteht hier
und die Entstehung kann mitgelesen werden:
http://www.freeyourgender.de/forum/view ... =855#p1606


Was bedeutet dass nun alles, was ich hier sagen will:

Es gibt hier für mich einmal das Faktum, dass Begriffe, die zur Zeit im Diskurs,bzw. in den Medien verwendet werden,
stark belastet sind, und zwar Gegenstand von Grabenkämpfen in der Community.
Diese Belastung ist so extrem hoch, dass ein Buch, wie ihr es plant, an Begrifflichkeiten scheitern kann,
will heißen: Es kann völlig falsch verstanden werden, und von verschiedenen Menschen daher abgelehnt werden,
nur weil die Begriffe den Inhalt verzerren, weil Begriffe für einige Menschen dazu führen, dass sie sich nicht damit identifizieren können.
Das Trans-Thema ist, im Gegensatz zum Intersexuellen-Thema, etwas unsichtbares, nicht greifbares,
daher halten sich viele sehr stark an Begriffen fest, identifizieren sich mit Begriffen. Dazu gehört auch der Begriff "Frau".
An Begriffen hängen diese Menschen ihre Identität auf, ihr Sein. Ihr Dasein. Sie haben sonst nichts anderes sich zu erklären.
Desshalb werden Reportagen im Fernsehen, wenn falsche Begrifflichkeiten verwendet werden, von der Community im Nachhinein zerrissen,
das läuft aber geräuschlos ab, die Tränen sieht niemand, da die Community so gut wie keine Lobby hat.

Wir müssen also festhalten: An Begriffen machen die einzelnen Gruppierungen im Trans-Diskurs, und das sind sehr viele, ihre Identität fest,
hier werden Grabenkämpfe geführt, existieren einzelne "Lager", die sich regelrecht anfeinden, da jede Gruppe der anderen den Begriff vorenthalten möchte,
den die andere auch für sich beansprucht. Frau und Transsexuell sind hier die meistumkämpften. Bzw. auch tragisch ist, wenn diese Begriffe
mit Inhalten gefüllt werden, die verschiedene Menschen nicht so sehen, das wird dann als Angriff gesehen.
Ähnlich wie Menschen sich angegriffen fühlen, weil gleichgeschlechtliche Paare auch heiraten wollen und den Begriff Ehe für sich auch gerne haben wollen.
Dadurch verlieren (oder sie meinen es zumindest) heterosexuelle ihre "Festung" Ehe, die sie von den gleichgeschlechtlichen noch unterscheidbar gemacht hat,
mit der sie sich identifiziert haben, und wenn das nun wegfällt, haben diese Menschen ein Identitätsproblem.
Oder sehr konservative Frauen, die z.B. Queer-Frauen desshalb ablehnen, da sie nichts mehr"weibliches" in diesen Frauen ausmachen,
und wenn sie das bejahen, bedeutet dass für sie selbst, dass sie nicht mehr wissen wo sie selbst stehen, nicht mehr sicher sind,
dass ihre Art wie sie sich z.B. kleiden ein Indiz dafür ist, dass sie "Frauen" sind, wenn das alles nichts mehr zählen soll. (Konservativismus <> Queer).


Die Gefahr, die ich also sehe, wenn ihr Begriffe verwendet ist, dass ihr sofort polarisiert, bestimmte Gruppen werden euer Buch gut finden,
andere werden es nicht lesen wollen, oder es, sobald diese Begriffe fallen, nicht mehr gut finden.
Die Grabenkämpfe die hier geführt werden sind enorm. Selbst Selbsthilfegruppen, Organisationen sind nicht homogen, sind gespalten.
In den Foren ist der "Streit" um die Begriffe ein Dauerthema. Dies ist auch einer der Ursachen, warum im TS-Diskurs sehr schwer eine gesamte
Allianz zu formieren ist, wie z.B. eher bei den Schwulen und Lesben möglich. Dort ist es auch schwierig, aber bei Trans extrem schwer, bis unlösbar.


Ich kann gerne auf die Spaltung und Graben die sich hier auftun näher eingehen, wenn dies das Projekt erfordert,
falls ihr also vorhabt, auf diesen Wellen zu surfen, und diese Polarisation herauszukitzeln, ist es wichtig, das Vokabular zu beherrschen.
Aber ich glaube, aus der Frage sehen zu können, dass euer Ziel:
"Erscheinungsräume für Menschen zu öffnen"
doch eher in der Entspannung liegt, als in der Konfrontation und Polarisation, Provokation.


Daher, bevor ich jetzt das Profil Eurer Protagonistin mit der Sprache der verschiedenen Gruppen übersetze,
oder in der Sprache der FYG-Verständniswelt (die auch wieder nur eine Insel ist im Diskurs, Euer Buch wäre dann automatisch ein Exot),
bevor ich also diesen Versuch mache, würde ich fragen:
Wenn Doch Euer Ziel ist:
"Erscheinungsräume für Menschen zu öffnen"
würde ich komplett auf Begriffe in dieser Art verzichten,
ich würde keinen einzigen Begriff verwenden, keinen Trans*x Begriff, keine Identitäts-Begriff - gar nichts.

So können sich Leser_innen das ohne Vorurteile aus der Story herauspicken, was sie für sich brauchen,
und die Protagonsitin bekommt keinen Farbanstrich irgendeiner Ideologie, Theorie, oder These.

Astrid Lindgren hat auch keinen Begriff verwendet, weder Trans* noch Gender,
ihr Buch entstand in den 40iger Jahren, einige Jahre später schrieb Simone de Beauvoir ihr Werk "Das andere Geschlecht",
das im Prinzip erklärt, wie die Gesellschaft einen Mensch zu einer Frau "gendered".
Den Begriff Transsexuell gab es schon zu Lindgrens Zeiten, Magnus Hirschfeld hat ihn 1925 eingeführt.
Pippi Langstrumpf ist eine Ode an die Rebellion gegen Geschlechtererwartungen, und verwendet kein Wort davon.
Die Aussage wird durch Handlungen getragen, nicht durch Begriffe.
Ich denke, wenn ihr das beherzigt, kann euer Buch von allen Gruppen im Diskurs gelesen werden,
und ihr öffnet den Diskurs, ohne ihn mit Begriffen zu verkleistern.
Also mein Tip: Keinerlei Begriffe.

Charlotte Roche`s "Feuchtgebiete" kam auch ohne den Begriff "Feminismus" aus, obwohl Feuchtgebiete ein Feminismus-Projekt ist.
Es zeigt den F-Finger gegen die Erwartungen der Männer, wie eine Frau zu sein hat, schreibt gegen Klischees an.
Ein perfektes Trojanisches Pferd, und desshalb wurde es auch von der Zielgruppe gelesen, die es erreichen sollte: den Männern.
Statt Feminismus eine Attitüde eines Frauenporno. Manchmal muss man eben mogeln.

Das müßt ihr auch, mogelt euch in die Herzen der Leser_innen, und zwar über die Story, über die Emotionen, über das was passiert,
nicht über Begriffskonstrukte.
Beschreibt, was das Mädchen fühlt, was die Frau fühlt, legt den Fokus auf den Versuch, diese innere Zerrissenheit so transparent zu beschreiben,
dass man sie anfassen kann, greifen kann.

Antoine de Saint-Exupéry, "der kleine Prinz", lebt nur von der Story, von Metaphern. Es wurde ein Welterfolg.
Jeder weiß über den Inhalt was gemeint ist: Liebe, Freiheit, Spiritualität. Die Geschichte selbst benennt diese Dinge, sie müssen nicht benannt werden.


FreeYourGender kann diesen Begriffen die existieren nicht aus dem Weg gehen,
FYG muss diese aufgreifen und zerlegen, richtigstellen.
FYG sieht sich auch als Leuchtturm von Menschen, die Orientierung suchen,
daher muss FYG diese Menschen in ihrer Sprache abholen, die Sprache,die auch von SHGs und Medizinern usw. gesprochen wird,
die meist genitalistisch ist, FYG ist eine Übersetzungsmaschine, die diese genitalistische Welt in die FYG-Verständniswelt übersetzt
und somit ein Denken geraderückt, und damit einen Raum schafft, in denen Menschen Halt finden können.
FYG muss sich also an Mißständen reiben, ein Buch, wie ihr es vorhabt, kann für sich einfach so wirken, ist fiktiv und braucht daher
nicht die Kontroverse mit den Zuständen, was draußen los ist.
Oder ihr hab den Anspruch, eine Art Reality-Doku zu schreiben, aber das denke ich jetzt eher nicht,
ich denke, es soll eine Geschichte werden, die ähnlich wie Pippi Langstrumpf, Freiräume schafft,
die Menschen entspannt, und Menschen, die Andere fremdbestimmen den Spiegel vorhält.

Soweit von mir meine erstes Feedback zu Deiner Frage,
ich finde es toll, dass ihr dieses Thema aufgreift,
denn es gibt kein schwarz und weiß - alles ist fließend,
wir alle haben beide Anteile in uns - Yin und Yang,
in verschieden großer Gewichtung, aber es gibt immer einen 2. Teil,
den es nicht zu verleugnen gilt.

LG Jasmin


Bild

"Campaspe"
John William Godward
1896