Das Passing-Paradoxon

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JasminRheinhessen
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Das Passing-Paradoxon

Beitrag von JasminRheinhessen » 03 Jun 2018, 11:50

Eine Frau mit männlicher, langer hakeliger Nase oder anderen "maskulinen Attributen" wird nicht automatisch in den Verdacht geraten,
sie wäre Tr☹ns oder "nichthetero", ein Mann in ähnlicher Situation, beispielsweise mit einem weiblichen Gesicht wird sehr schnell in den Diskurs
des hetero oder nicht, des tr☹ns oder nicht, gestellt. Das Passing-Paradoxon.
Es wird sichtbar im Fall eines Outings, meist dürfte dies ein unfreiwilliges Outing sein, sei es durch verräterische Merkmale wie die unpassende Stimme,
Schuhgröße, Körpergröße usw, das kleinste männliche Verdachtsmoment "bestätigt" dann die Gedanken des Betrachters:
"Wusste ich`s doch, eine Tr☹nse!"
Dass es aber auch XX-Frauen mit diesen Merkmalen innerhalb der natürlichen Varianz gibt, scheint die Betrachter nicht weiter zu stören,
wichtig ist ihnen nur, dass die heile Welt des patriarchalen dualgeschlechtlichen Modells für den Betrachter bestätigt wird,
deshalb wichtig, weil ihre Erziehung ein Verlassen dieses Modells mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt hat, mit Ausgrenzung und Abwertung,
die Angst vor dieser Ausgrenzung und Abwertung, wird durch transphobe Gefühlsschübe, die alles zu verhindern wissen, was das Verwischen der
männlichen Abgrenzung bedeuten könnte, gesteuert. Passing-Paradoxon deshalb, weil unsere "Mitstreiter", die Männer, die mit weiblichem Genital geboren wurden, die XX-Männer, nicht, oder nur in bedeutend geringerer Weise von diesen Sanktionen betroffen sind.
Sogar wenn sie sich selbst als Männer beschreiben würden, sich selbst outen, und sich dann mit Frisur, Kleidung, Verhalten, Bewegungen wie Joe Calderone aufführen, Lady Gaga's Alter Ego, werden sie für die meisten, die sie "als Frau" erkennen, nicht als "Tr☹ns*" eingeordnet, sondern eventuell als "burschikose" Frau, die sich einfach beliebig kleidet und gibt, und lediglich weibliche Klischees durchbricht. Das löst bei den meisten Männern keine transphoben Gefühle aus, sondern im Gegenteil, diese Frauen werden als sehr anziehend wahrgenommen und sie gehören für viele zu einer besonderen "Kategorie Frau".

George Sand betrat dieses Spielfeld in den 70er Jahren des 19. Jahrhundert, ca. 60 Jahre bevor Marlene Dietrich 1930 in der blaue Engel mit Männerkleidung für Furore sorgte. George lief in ihrer männlichen Kleidung und Frisur nicht nur ins Theater, wo sie teilweise an billigere Karten kam, weil sie als Mann dadurch einen Vorteil hatte, sondern auch auf den Treffen in den Salons in gehobenen Kreisen, in denen bekannt war, dass sie die Freundin von Chopin ist. Keiner in den gehobenen Kreisen hätte sie deshalb als Tr☹ns* gelesen, sondern sie war eine Frau in männlicher Kleidung, und galt als sehr anziehend. Im Theater war sie, wenn ihre "Verkleidung" funktionierte, der Mann. Die Zwischenstufe wie für Frauen, die mit männlichem Genital geboren werden, die XY-Frauen, die sich ergibt, wenn wir die unpassende Stimme haben, die unpassende Statur, die dann nicht zu unserer weiblichen Kleidung passen will, kommt für XX-Männer sehr selten zum Tragen, sie verbleiben entweder im XX-Feld, gelten als Frau und dann sogar als sehr anziehende Frau, oder sie werden als Mann gelesen, viel seltener als XY-Frauen geraten sie in die Stromschnellen des Tr☹nsdiskurs.
Wir können diesen Effekt auch bei anderen gesellschaftlichen Ereignissen feststellen:
Die Hosenrolle, eine von Frauen gespielte männliche Figur, des Octavian in der Oper "Der Rosenkavalier". Octavian wird von den Zuschauern trotzdem als Frau gesehen, nicht als Travestie-Darsteller, und wirkt besonders anziehend und erotisch. Nocheinmal steigert sich diese Erotik, da diese Frau dann die Fürstin von Werdenberg liebt, im Schauspiel eine heterosexuelle Darstellung, im Empfinden der Zuschauer aber eine lesbische, homosexuelle. Diese Steigerung der Attraktivität gehört auch zum beschriebenen Paradoxon: Schwul wird als negativ, lesbisch als positiv in den meisten Fällen empfunden, beziehungsweise letzteres hat eine bedeutend höhere Akzeptanz. Interessant ist auch, dass Richard Strauss seine Oper "Der Rosenkavalier" genannt hat, also nach der Figur des Octavian, die Hauptrolle des Gesangs übernimmt aber eigentlich die Fürstin von Werdenberg. Hier wird also noch einmal Gewicht auf das besondere Ereignis für den Zuschauer gelegt. Ein Alibi dieses Vorgehens von Hosenrollen war regelmässig, dass eine männliche Figur Noten zu singen hatte, die nur von Frauen im Tonumfang gut interpretiert werden konnten. Die Begeisterung und das erotische bei diesem Effekt war aber der eigentliche, natürlich nicht kommunizierbare Grund. Umgekehrt, eine weibliche Figur von einem Mann dargestellt, muss im Kleid der Komödie daherkommen, nur die Lächerlichkeit kann die Zuschauer von transphoben Gefühlen bewahren, denn wenn es als lustig und lächerlich "verkauft" wird, ist es legitim. was wir dann unter dem Namen "Travestie" kennen. Beispielsweise Peter Alexander in "Charley's Tante" oder Dustin Hoffmann in "Tootsie". Auffällig ist aber, dass, wenn wir die Rolle umgekehrt, Frauen in Männerkleidung, auch als Travestie bezeichnen wollten, diese ganz ohne komödienhaftes, lächerliches auskommt, sondern im Gegenteil, ernsthaft bleiben darf und in ihrer Wirkung hochgradig erotisch ist. Die Ursache des Passing-Paradoxon ist das Patriarchat, dass dafür sorgen muss,
das Männlichkeit definierbar bleibt, Jungen schon früh erzogen werden, Jungen zu sein, Mädchen zwar auch, aber sie haben eine etwas größere Bandbreite, in der sie sich bewegen können, zu sehen beispielsweise, wenn Mäddchen sich an die Hand nehmen, sich gegenseitig umarmen, auch noch, wenn sie schon älter sind, was bei Jungen gar nicht mehr geht, das würde in der Regel in einem patriarchalen Umfeld als mädchenhaft gelten und dieser Junge würde von seinen Spielgefährten gemobbt werden, da sich die anderen Jungen sein Verhalten nicht zu eigen machen wollen. Kinder werden schon frühzeitig für das Patriarchat instrumentalisiert und ihr ganzes Leben für diese Idee missbraucht, wer versucht das Patriarchat zu verlassen, wird sanktioniert.Wir sehen hier die Wirkung des Patriarchats, das verschobene Gleichgewicht im Regelwerk der Geschlechterrollenkonformität, was sich stark auf die Passingbemühungen von Frauen und Männern auswirkt, die mit einem Genital geboren wurden, das nicht zu ihrer Geschlechterrolle passt, die sie einnehmen. Eine andere Welt würden wir betreten, wenn es eine Geschlechterrolle des Zwischen auch gäbe. Intersexualität, die innerhalb der Varianz der Natur ebenfalls vorgesehen ist, auch eine eigene Geschlechterkategorie, und zwar ohne intersexuelle Phobie, bekommen würde, dann gäbe es dieses ständige hin- und hergerissene Zuweisungsspiel zwischen den Polen Frau und Mann nicht mehr, sondern es gäbe einen eigenen Stuhl, auf dem diese Menschen Platz nehmen könnten, nicht nur zwei, sondern drei Stühle, nur könnten wir dann alle auf den dritten Stuhl wollen, das Katastrophenszenario des Patriarchats, denn dann würde der Schwanz keine Definition des Mannes mehr sein, wer hätte dann Anrecht darauf, die Frau zu unterdrücken? Aber selbst, wenn dieser dritte Stuhl nur einen Teil der Gesellschaft beherbergen müsste, wäre das Patriarchat infrage gestellt, die harte Abgrenzung, wer Mann ist und nicht, die vom Patriarchat benötigt wird, ist dann nicht mehr gegeben, auch, wenn nur ein kleiner Teil auf diesem Stuhl sitzt, und dieser Teil einen Schwanz besitzt. Schwanz und Brüste, geht gar nicht im Patriarchat. Ein Mann muss dem Patriarchat entsprechen, wenn nicht, entstehen Abwehrreaktionen der Gesellschaft, Transphobie, oder das Lächerlichmachen, oder beides, die Erziehung, die schon früh Geschlechterrollen mit entsprechenden Klischees zementiert, schon bereits in der frühen Kindheit sorgt gewissenhaft für alle späteren Probleme, die durch die lediglich vorhandenen beiden Stühle entstehen müssen. Diese Zwanghaftigkeit des Entsprechenmüssens in der männlichen Rolle mit allen in dieser Rolle mitgelieferten Klischees tritt besonders in Männerdomänen wie Fußball und Militär stark hervor. Ein Fußballspieler oder Soldat, bei dem der Roman Salammbo im Spind gefunden wird, dürfte auch noch im Jahr 2270 ein Problem bekommen.


Bild

Der Rosenkavalier, 1911, Uraufführung
links: Eva von der Osten als Octavian, der Rosenkavalier
rechts: Margarethe Siems als Feldmarschallin von Werdenberg


Dieses Essay wurde als Schlusskapitel LXXV von Salammbo Band 1 verwendet

Dieses Essay über das Passing-Paradoxon sind nun nochmal 3 Salammbo-Buchseiten geworden,
ich habe es als "Infoblatt" inszeniert, das die Student_innen beim Rausgehen aus dem Hörsaal,
also beim Verlassen der Vorlesung mitnehmen können -
Verlassen des Hörsaals ist eine Metapher zum Schluss des Band 1 von Salammbo.
Ich bin sehr glücklich mit dem Schluss des Band 1,
der Schluss bildet auch eine Lösung an, Passing nicht zu sehr überzubewerten,
da es auch sehr viele XX-Frauen gibt, die fern jedes Klischees sind.



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